In der Fotostiftung Schweiz in Winterthur hängt im Moment das Lebenswerk der Schweizer Fotografin Pia Zanetti. Ich habe sie zu Hause in Zürich getroffen.
Pia Zanetti ist 1943 in Basel geboren. Sie gehört zu den profiliertesten Schweizer Fotojournalistinnen ihrer Generation, und zu den wenigen Frauen, die sich in diesem Metier über Jahrzehnte behaupten konnten. Schon als junge Frau war sie gierig auf die Welt und realisierte zusammen mit ihrem Mann, dem Journalisten Gerardo Zanetti, engagierte Reportagen. Arbeit macht den Widerstand gegen das Unrecht genauso wie die flüchtigen Momente des Alltags zum Inhalt – auf der Strasse, beim Spielen und Nachdenken. Ihre Fotografie ist geprägt von einem so weltoffenen wie mitfühlenden Blick, der die Menschen in den Vordergrund rückt.
Thomas Kern: Ich schaue mir das erste Bild an im Buch: 3 junge Männer tanzen, es ist datiert mit 1960. Sie waren damals gerade mal 17 Jahre alt. Das Bild erweckt den Eindruck einer gewissen beobachtenden Distanz. Die jungen Männer sind aber gleich alt wie Sie damals. Waren sie immer schon die Beobachterin?
Pia Zanetti: Tatsächlich beobachte ich sehr gerne. Dieses Bild entstand anlässlich der Basler Herbstmesse. Die Bühne vor mir ist rund und dreht sich. Ich selbst wollte nicht mit auf diese Bühne. Deshalb vielleicht der Eindruck von Distanz.
Vielleicht hat es auch ein wenig damit zu tun, dass ich scheu war und wenn man scheu ist, ist es einfacher zu beobachten als mitzumachen. Ich habe mir das nie so überlegt, aber das hat etwas.
Aber ich beobachte gerne, das ist immer noch so. Wo immer ich hingehe scanne ich meine Umgebung, wie es aussieht, wie die Menschen leben, wie sie gekleidet sind. Immer auch verbunden mit der Vorstellung nicht werten zu wollen. Oft verändert sich die Beobachtung auch, wenn man jemanden kennenlernt oder man mit jemand gesprochen hat.
Es kommt noch dazu, meine Vorbilder damals waren natürlich die Fotografen der Agentur Magnum. Vielleicht sieht man das ein bisschen, ich wurde noch nicht aufgenommen. Aber das Bild hat auch ein wenig von diesem Magnum Groove. Etwas vom Wichtigsten in dieser Zeit war, dass man sich als Fotografin unsichtbar machen konnte. Ich kann fotografieren und die Menschen sehen mich nicht. Es galt fast schon als eine Schande, wenn jemand in die Kamera schaut. Das hat sich seither aber auch verändert, für mich sogar sehr.
Aber ich war damals stolz darauf wenn ich beobachten und fotografieren konnte, ohne dass die Menschen mich wahrnahmen. Das war etwas, das ich anstrebte.
Aber das setzt doch ein recht grosses Bewusstsein voraus dafür was ihre Rolle als Fotografin angeht. Sie waren 17 Jahre alt!
Ja gut, aber man macht als junger Mensch sehr viel auch unbewusst. Und erst später analysiert man das eigene Tun. Doch das unsichtbar machen war mir schon bewusst. Ich habe viel gelesen damals, mein Vorbild war Margaret Bourke-White und ich hatte ja auch einen Bruder, der selbst Fotograf war.
Sie haben eine Lehre gemacht als Fotografin. Eine kleine Anekdote. Wie war das damals?
Ich suchte eine Lehrstelle und bewarb mich bei allen mir bekannten Fotografen. Die Antwort war immer dieselbe, wir nehmen schon einen Lehrling, aber eben keine Frau. Das Argument war, dass ich die Kameras, Licht und ganze Ausrüstung nicht herumschleppen könne.
Es gab auch die Möglichkeit an eine Fachschule zu gehen, nach Zürich oder Vevey. Aber das war mir aus finanziellen Gründen nicht möglich, wir wohnten in Basel.
Mein Bruder war 15 Jahre älter als ich, er bot mir an die Lehre bei ihm machen zu können. Das passte mir ursprünglich nicht, es war mir ganz einfach zu nahe. Andererseits wollte ich unbedingt. Ich wollte diesen Beruf.
Weshalb unbedingt die Fotografie?
Da war ja schon mein Bruder. Ich habe gesehen, was er so macht. Das hat mir gefallen, mich hat es fasziniert. Ursprünglich hatte er auch Reportagen gemacht, später mehr Werbung. Und dann wollte ich Geschichten erzählen und in die Welt hinaus gehen. Mit welchem Beruf kann man das schon. Es war klar für mich, das ist meine Möglichkeit, ob mir das auch gelingen würde, wusste ich damals noch nicht.
Man wollte Sie von diesem Berufswunsch abhalten?
Nicht böswillig, nicht aus moralischer oder ideologischer Sicht wollte man mich davon abhalten. Meine Mutter war überzeugt, dass ich mir als Fotografin mein Leben nicht werde verdienen können. Das ist eine brotlose Kunst, so sagte man damals. Ich bin sehr arm aufgewachsen und ich wusste schon, so arm möchte ich nicht durchs Leben gehen. Ich wohnte zusammen mit meiner Mutter in einer 1-Zimmer Wohnung.
Ich machte also erst eine Handelsschule. Ich habe ein Jahr im Büro gearbeitet, war stolz darauf etwas Geld zu verdienen und meiner Mutter auch unter die Arme greifen zu können. Ich war damals etwa 17 Jahre alt. Aber ich habe allen gleich gesagt, dass ich nur kurz bleiben würde, denn mein eigentliches Ziel war Fotografin zu werden. Ich war im Büro so etwas wie Mädchen für Alles, das hat mir unglaublich gefallen, besser als Protokolle abzuschreiben.
Ihr Bruder war doch Beweis dafür, dass man mit der Fotografie trotz allem Geld verdienen konnte. Weshalb also die Zweifel?
Das stimmt, das habe ich mir nie überlegt. Aber er war ein Mann! Und ich war sehr zierlich. Meine Mutter konnte sich das ganz einfach nicht vorstellen.
Mein Eindruck ist, dass Sie ein Leben geführt haben in dem der Blick stets nach vorne geführt hat. Weiter zur nächsten Reise, zum nächsten Projekt oder Lebensabschnitt. Wie fühlt sich das nun an zurückzuschauen auf ein Lebenswerk? Dieses Wort ist in ihrem Fall doch angebracht, nicht?
Ich glaube schon. 60 Jahre sind wohl schon ein Lebenswerk. Das tönt sehr schön, was sie da sagen. Aber ich habe eigentlich immer versucht, das Leben so zu nehmen wie es kommt. Dennoch, eines Tages hatte ich damit begonnen, mein Archiv aufzuarbeiten. Das allein dauerte beinahe zwei Jahre. Peter Pfrunder, der Direktor der Fotostiftung Schweiz wusste davon und sagte mir: "Wenn du fertig bist damit, dann melde dich." Zuerst war ich natürlich unglaublich stolz darauf gefragt zu werden, aber dann kam auch die Angst, die Frage, was zeige ich da, ist meine Arbeit auch gut genug? Nach langem Warten kam dann aber die feste Zusage aus Winterthur. Luca, mein Sohn, der auch Fotograf ist, ist mir dann bei der Auswahl der Bilder zur Seite gestanden. Das Verarbeiten des Archivs wird so zu einer Analyse des eigenen Lebens. Auf fast allen Reisen war ich unterwegs zusammen mit Gerardo Zanetti, meinem verstorbenen Mann. Das ist zusätzlich schwierig, wenn diese andere Stimme nicht mehr da ist.
Ich habe mir im Lauf der gemeinsamen Arbeit mit Gerardo auch ein politisches Bewusstsein erarbeitet. Das war zumindest bei mir nicht von Beginn weg vorhanden, bei Gerardo schon.
Ich mag mich erinnern an ein Bild, wir waren in Südafrika. Ein gut aussehender Schwarzer, ein junger Mann stand hinter einem Stacheldraht, seine Hand am Draht wo er ihn halten konnte. Ich musste für einen Moment an ein Bild von Leni Riefenstahl denken und konnte mich nicht überwinden abzudrücken, ich traute mich nicht, mit diesem Bild im Kopf.
Es war Gerardo, der mir sagte: "Drück ab! Wir sind die einzigen hier." Mit anderen Worten: Niemand wird dies sehen, wenn du jetzt das Bild nicht machst. Das ist heute ja auch anders. Es gab noch so viele Orte, wo man fast alleine unterwegs war.
Ist dieses Lebenswerk heute denn überhaupt abgeschlossen? Sie sind 77 Jahre alt. Legen sie die Kamera denn nun zur Seite, oder kommt das für Sie nicht in Frage? Was treibt sie an?
Soll ich denn nun den Sarg bestellen? (lacht) Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich im Moment keine Lust habe die Kamera in die Hand zu nehmen. Das erstaunt auch mich selbst. Aber man muss ja akzeptieren, was mit einem passiert.
Das haben sie noch nicht analysiert?
Das möchte ich vielleicht auch gar nicht. Es ist eine grosse Freiheit mit leeren Händen nach draussen zu gehen (ohne Kamera, ohne Stativ). Aber ich habe mir dieses Jahr etwas reserviert für meine Ausstellung, ich möchte das auch geniessen, zusammen mit Freunden nach Winterthur zu fahren, es wir sicher noch einiges passieren rund um die Ausstellung. Ich vertraue fest darauf, dass wieder etwas Neues auf mich zu kommt, dass ich Lust haben werde etwas neues zu machen.
Was macht diese Ihnen zu einem späten Zeitpunkt im Leben zugestandene Anerkennung mit Ihnen? Nehmen sie es gelassen, geniessen sie es oder gibt es vielleicht sogar unangenehme Aspekte dieses späten Ruhms?
Nein, ich muss da ehrlich sein, ich geniesse es, ich bade mich im Ruhm (lacht). Ich finde es extrem schön, vor allem aber war auch die Zusammenarbeit mit der Fotostiftung, mit Verlag und der Grafikerin schön. Das sind alles Menschen, die ich vorher schon ein wenig kannte und die ich nun noch besser kennenlernen konnte. Alle waren so engagiert und tun ihre Arbeit mit viel Leidenschaft.
Hat es denn auch Zeiten gegeben in ihrem Leben, wo ihnen diese Aufmerksamkeit gefehlt hat?
Das gab es sehr wohl. Wo ich auch selbst dachte, bin ich wirklich so gut, kann ich das wirklich, wo ich auch an meiner Arbeit zweifelte. Zum Glück bin ich nicht sehr depressiv veranlagt. Und ich suchte im Leben immer auch anderes, ich habe auch Kinder aufgezogen. Die Zeit als die Kinder klein waren, da habe ich oft Freunde eingeladen, gekocht und Gastgeberin gespielt, das hat mir schon auch Freude gemacht, dachte gleichzeitig aber auch, hey, ich bin doch Fotografin. Aber es war auch eine Zeit in der wir Geld verdienen mussten. Ich bin nicht wie René Burri, ich werde nicht mit der Leica ins Grab steigen. Ich habe diesen Beruf extrem gerne, aber es gab auch immer etwas anderes als der Karriere zu folgen. Ich hätte mich früher nie darum bemüht, eine Ausstellung zu bekommen.
Plötzlich nennt man sie eine Pionierin, eine Vorreiterin und ein Vorbild in einer bis vor kurzem sehr von Männern dominierten Welt der Fotografie und des Journalismus. Wie gehen sie damit um und gab es in ihren früheren Lebensphasen ein Bewusstsein für diese Rollen?
Nein, dieses Bewusstsein hatte ich nicht. Und das hatte ich auch nie angestrebt. Das sind grosse Worte. Ich würde diese Begriffe für mich nie gebrauchen. Bitte macht keine Heldin aus mir. Viele Frauen, die sowas lesen, müssen doch denken, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind. Fast alle Menschen machen doch etwas aus ihren Leben. Ich wollte einfach Fotografin werden, es war mir egal, dass ich eine Frau war. Meine 13 Jahre ältere Schwester war Journalistin und sehr emanzipiert, vielleicht war sie so etwas wie ein Vorbild für mich. Sie ging raus aus dem Haus zur Arbeit, das war ganz selbstverständlich. Ich hatte einfach nie das Gefühl etwas zu tun wozu andere Frauen nicht auch fähig wären.
Ich habe ganz früh geheiratet, so früh, dass ich dazu noch die Unterschrift meiner Mutter brauchte. Ich war 19 ½ Jahre alt. Meine Bedingung an Gerardo war, keine Kinder für die kommenden Jahre. Er ist sehr katholisch aufgewachsen und wollte heiraten, er hatte Angst seine Mutter könnte sterben, wenn er nicht heiraten würde. Ich war dann 26 als Livio zur Welt kam.
Wir kamen in Rom an, ich konnte ein wenig italienisch. Da stürzte ich mich einfach in die Arbeit, auf unsere Reportagen, und habe schon bemerkt dass ich weit und breit die einzige Frau war. Ich war sehr jung und sah dazu noch jünger aus als ich war, wie ein Mädchen. Die Arbeit war oft auch Aktualität, zum Beispiel ein Papstbesuch im Kolosseum. Da stand ich dann neben den Paparazzi, das waren Apparate von Männern. Mit der Zeit nannten sie mich la virgoletta – ein kleines Komma, das war eigentlich noch liebevoll. Aber zu Beginn war die Reaktion auf mich eher wie: Was machst du denn hier? Du bist verheiratet? Wo ist denn dein Mann? Der lässt dich einfach so nach draussen? Ich liess die einfach reden, ich wollte einfach irgendwie zu meinen Bildern kommen.
Mit einem dieser Römer Fotografen, Antonio Sansone, konnte ich eine Freundschaft aufbauen. Er nahm mich mit auf die Redaktionsbüros von Illustrierten Publikationen, Europeo, Epoca, Noi Donne, Espresso. So ging ich bei den Redaktionen bald ein und aus, meine publizierten Bilder wurden gesehen und ich wurde bald auch ernst genommen.
Sie fotografieren seit 60 Jahren. Was hat sich verändert?
Was sich mit Sicherheit verändert hat ist der Markt. Die Möglichkeit zu arbeiten. Wir konnten damals auf eine Redaktion gehen mit drei Vorschlägen für Reportagen, keine Geschichten draussen vor der Haustür, sondern Recherchen weit weg, in der Welt, mit Reisen verbunden. Da wurde sofort entschieden, das machen wir, die zweite Geschichte auch gleich, den dritten Vorschlag besprechen wir dann wenn ihr wieder zurück seid. Braucht ihr einen Vorschuss? Geht auf dem Weg nach draussen bei der Kasse vorbei und holt euch Geld ab. Sowas gibt es nicht mehr. Die Redaktion der Woche hatte für uns allein in Zürich eine kleine Wohnung gemietet, nur damit wir, wenn wir aus Rom oder aus London auf Durchreise waren, einen Ort zum Schlafen hatten.
Das andere ist der technische Wandel. Ich habe mich lange, schon nur gegen den Autofocus gewehrt. Ich dachte, ich sehe doch noch gut. Bis dann die Zeit kommt wo du denkst: Ist eben doch noch praktisch. Auch den Wechsel zum digitalen habe ich lange herausgeschoben, aus Respekt vor der neuen Technik, weil ich dachte, dass ich das nicht begreifen würde. Als dann aber Aufträge ausfielen, weil die Kunden das Filmmaterial und die Entwicklungen nicht mehr bezahlen wollten vollzog ich den Wechsel trotzdem. Ich bereue es nicht. Ich war nie die Fotografin, die gerne im Labor stand, im Gegenteil, ich versuchte so wenig wie möglich in der Dunkelkammer zu sein.
Da war immer eine Höllenangst das nichts drauf ist auf den Filmen. Ich bin nachts um 9 Uhr direkt ins Labor der Redaktion gerast, nur um diese Angst loszuwerden.
Ich habe immer versucht mich nicht auf die Geschwindigkeit des digitalen einzulassen. Ich habe immer noch das Gefühl mein Bild zu, ich bin ja nicht die fromme Pia, auch ich bin ich nicht gefeit gegen den Zeitgeist. Aber ich denke, ich habe diesen Wandel gut geschafft.
Mit dem neu geborenen Kind zum Interview und Fototermin bei Regisseur Franco Zeffirelli?
Da hatten wir den Auftrag ein Porträt zu machen von Zeffirelli bei sich zu Hause. Wir hatten den Termin bestätigt bekommen, hatten aber keine Nanny und auch sonst niemand, der sich um das kleine Kind gekümmert hätte. Also was tun? Ich habe ihn ganz einfach mitgenommen in einer kleinen Tasche und deponierte ihn mehr oder weniger nach der Haustür. Livio hat durchgeschlafen, Gerardo machte sein Interview und ich meine Bilder und nach unserem Termin gingen wir nach draussen ins Auto wo ich ihn stillte und wir gingen wieder nach Hause. Es ist wichtig zu wissen, ich habe keine Angst. Das verwundert die Menschen oft sehr. Auch in Krisengebiete zu Reisen, oder Kriegsgebiete zu gehen, ich habe einfach keine Angst. . . .
Sie haben doch Angst davor, dass nichts drauf ist . . .
Ja, Angst vor der Technik, vielleicht . . .
Sie sagten mit 50 Jahren: "Ich hatte einen solchen Drang nach draussen zu gehen, die Welt zu sehen und mich zu beweisen?" Das hatten Sie doch eigentlich längst gemacht, woher kam dieses Bedürfnis?
Als Frau muss man sich immer doppelt beweisen. Gerardo und ich haben bis dann immer zusammen gearbeitet. Wir waren ein sehr enges und gut funktionierendes Team, aber ich vermutete immer, dass die Aufträge kamen, weil Gerardo ein guter Journalist war. Er wiederum dachte, dass die Arbeit kommt, weil ich eine ausgezeichnete Fotografin war. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich das auch alleine kann. Ich habe fortan viel allein gearbeitet, ich habe Geschäftsberichte fotografiert und auch gut verdient. Das Geld war mir immer noch ein wichtiger Antrieb. So arm wollte ich nie mehr sein, abends das Geld zusammensuchen, eine Flasche zurückzubringen um sich mit dem Depot noch ein Brot zu kaufen zu können. Diese Jugenderinnerungen habe ich nie vergessen.
Ich zitiere eine Passage aus dem Buch: Nina liegt auf dem Bauch, Luca ist zweieinhalb und Livio viereinhalb, in einer Ecke sitzt Gerardo über die Schreibmaschine gebückt und ich stelle mir vor, wie sie so versuchen ihre Kontaktkopien anzusehen. Das liest sich so leicht, die Probleme werden nur angedeutet. Wie hart war es denn wirklich? Haben sie in diesen Jahren nie daran gedacht aufzugeben? War es nie ganz einfach zuviel?
Natürlich war ich auch körperlich erschöpft. Ich schlief wenig. Wir hatten auch immer Besuch, ich habe gekocht, ich wollte auch mit dabei sein, ich war gierig nach dem Leben. Zusammen mit meinem Hausarzt, einer unserer Tessiner Freunde, fuhr ich nach Milano wo wir die Abende in den Bars verbrachten. Ich brauchte die Stadt, das Dorf war schlimm für mich, ich hatte nie vorher in einem Dorf gelebt. Zürich war schon damals teuer und Gerardo und ich wussten, wenn wir zusammen mit den drei Kindern eine Wohnung in Schwamendingen dann fällt unser Kartenhaus zusammen. Das hätten wir nicht überlebt. Wir wussten, wir brauchen Platz. Deshalb die Idee ins Tessin zu ziehen. Das war auch richtig, die Kinder machen viel weniger Arbeit auf dem Dorf, wir konnten ganz einfach die Tür aufmachen, da, geht nach draussen spielen. Doch aufgeben, das wollte ich nie. Von uns beiden war Gerardo war der ruhige Pol und auch geduldig. Ich war es die zwischendurch aufbrauste und ungeduldig sein konnte. Da kam dann schon auch mal das schlechte Gewissen auf, vor allem auch den Kindern gegenüber, das Gefühl eine bessere Mutter sein zu müssen.
Und wenn Sie heute in den sprichwörtlichen Spiegel schauen. Wen und was sehen Sie? Was ist es das diese beiden Pia Zanettis miteinander verbindet?
Ich glaube schon, dass ich mir treu geblieben bin. Ich versuche mich auch immer zu bessern, bis ich ins Grab steige. Die Kinder haben mich viel gelehrt. Da lernt man grosszügig zu sein, den Menschen gegenüber. Obwohl, ich habe meinen Söhnen immer gesagt, wenn einer von euch mit einer Uniform nach Hause kommt, dann müsst er sie unten vor der Tür ausziehen. Ich will keine Uniform sehen, mein Vater, den ich zwar kaum kannte, war Berufsmilitär.
Es gibt in ihrem Werk nur wenige Bilder aus der Schweiz. Aber ich habe Fotografien aus Caslano und Arzo gefunden, das war in der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Wohnorts im Tessin. Waren diese Bilder Resultat eines Auftrags? Oder war es die Neugier, für einmal zu sehen, wie es zu Hause um die Hausecke aussieht?
Das ist ja das verrückte. Alle meine Bilder entstanden im Rahmen von Aufträgen. Was man heute ein "Projekt" nennt, das machten wir damals als Auftrag. Wenn man sich für etwas interessierte machte man bei der entsprechenden Redaktion einen Vorschlag. Die Spinnerei in Caslano war ein Auftrag für die Schweizer Textilrevue und die Reportage in Arzo machte ich zusammen mit Dieter Bachmann für Das Magazin. Dieter wohnte damals in Arzo und arbeitete fürs Magazin. Das waren zwar nicht unsere Nachbarn, die Frauen auf den Bildern waren italienische Grenzgänger. Das war eine lokale Industrie und somit interessant, auf jeden Fall aufregender als in den Wald zu gehen um dort die Schnecken zu fotografieren.